Portraits, Inkjetprints auf Karton, 2012-2013, je 105x87cm
Ausstellungsansicht Kunstraum Nestroyhof, Wien, 2018
Fotografie: Christoph Fuchs

Vom Ungewissen in der Gewissheit

Die Geschichte des Porträts in der Kunstgeschichte ist eine Chronologie der Mimesis. Seit der griechischen Antike galt das Interesse des porträtierenden Künstlers der Nachahmung des Natürlichen, der Herstellung eines Menschenbildes „nach der Natur“. Im römischen Porträt besonders der republikanischen Zeit hält eine stark psychologisierende Interpretation Einzug in die Porträtskulptur, welche von der gefurchten Stirn, den wachen Augen, den schmalen Lippen auf individuelle Charaktereigenschaften schließen zu können meinte. Ganz im Gegensatz zu einer Fotografie, die mit weichen Valeurs und Blur-Effekten arbeitet, wie etwa im Piktorialismus; hier war es gerade das Vermeiden von mimetisch scharfer Zeichnung, von stark artikulierten Physiognomien – man wollte einen übergreifenden Gesamteindruck der Person erzielen; das Typische eines Individuums ist eben mehr als das Gesicht in seiner sichtbaren Physiognomie – hierzu gehören Haltung, Tonus, Silhouette, Kontur, Haare, Schultern, das Licht auf der Stirn, das Dunkle der Augen. Eine Fotografie wie die Robert Waldls, die a priori das Gesicht eines Freundes, einer Bekannten, eines Familienmitgliedes oder Kollegen in bewusster Unschärfe entwickelt, zielt gerade auf dieses Ungewisse in der Gewissheit ab; woran lässt sich ein Individuum erkennen, wenn wir nicht eine passfotogetreue Wiedergabe vor uns haben? Waldl vertraut der Abbildhaftigkeit der porträtierten Person über das bloße Porträt hinaus; er zeichnet das Bild eines Individuums gleichsam in effigie, als Bildnis der Abwesenheit. Die porträtierte Person verweigert sich der 1:1-Wiedergabe ihrer Gesichtszüge und Mimik und lässt den Betrachter bzw. die Betrachterin zunächst im Ungewissen. Sie erteilt allerdings weit mehr Gewissheit über sich selbst, indem sich ihr unscharfes Bild als symptomatische Gesamterscheinung ihrer Persönlichkeit darbietet. Die Abwesenheit der lesbaren Gesichtszüge und physischen Eigenheiten einer Person lässt erst die Möglichkeit einer viel intuitiveren, emotionaleren Annäherung zu, als es die bloß wirklichkeitsgetreue Abbildung vermöchte. Das dialogische Verhältnis von Porträtiertem und Betrachter erfährt so eine Veränderung in eine Sphäre der Anmutung: Nicht mehr ein vergleichbarer Realitätsgrad von Objekt und Subjekt der Wahrnehmung kennzeichnet den Sehvorgang, sondern eine Fermate, eine Fehlstelle. Hier – im Bild der Abwesenheit – breiten sich Erinnerung und Assoziation aus, Bilder aus der Vergangenheit und Imaginationen, abschweifende Gedanken und ungewisse Vermutungen.

Margit Zuckriegl
(aus: Reading Identities / Identitäten lesen, Verlag Sonderzahl, Wien 2018)