Frühe Übungen, Digitale Präsentation auf 6 Monitoren, 2013
Installationsansicht Kunstraum Nestroyhof, Wien, 2018
Fotografie: Christoph Fuchs



Das Bild als Regelwerk

Seit der Renaissance folgt die Porträtmalerei bestimmten kompositorischen Regeln, mit denen die Position des Porträtierten, Kontur und Verhältnis zum Bildgrund festgeschrieben wurden. Auch die frühe Porträtfotografie hatte ihre Kompositionsschemata hinsichtlich Haltung, Lichtführung und Typologie. Es war allerdings erst der dezidierte Wille zur Vereinheitlichung von Passbildern in der EU, der ein vorgefertigtes Regelwerk zur Stereotypisierung des individuellen Porträts zu einer veritablen Schablone werden ließ. Diese Schablonen wurden von den Fotografeninnungen an alle Berufsfotografinnen und -fotografen verschickt, um die biometrische Erfassung der Abgebildeten flächendeckend zu garantieren. Gleichzeitig wurde es 2012 verpflichtend, für Kinder ab der Geburt Pässe mit Passbildern ausstellen zu lassen – die Gesichtsschablonen und die starre En-face-Haltung taugten jedoch zunächst nicht für die kleinsten Passbildkunden.
Robert Waldl hat sich dieser Diskrepanz zwischen gesetzlich verordnetem ikonischem Regelwerk und den kindlichen Freiräumen und Unwägbarkeiten angenommen. Seine Kinderpassfotos sind von Studiofotografen hergestellte, gültige Porträtaufnahmen. Allerdings zeigt er auf je einem Monitor die gesamte Abfolge der aufgenommenen Porträtbilder, die notwendig waren, um von dem jeweiligen Kind ein biometrisch korrektes Foto zu erhalten. Je nach Temperament und Charakter des Kindes brauchte der Fotograf zwischen 11 und 54 Aufnahmen, um die schablonenhaft geforderte perfekte Haltung zu erzielen. Somit sind die „Frühen Übungen“ als miniaturhaftes Foto-Video-Kontinuum ein unwillkürliches Dokument der Subversion und des Agierens gegen ein stereotypes Regelwerk, das über das Bild des Individuums gestülpt werden soll. Dort, wo Fotograf oder Fotografin einem kategorischen Bildimperativ zu folgen haben, zeigen sich die machtpolitischen und disziplinierenden Handlungsweisen von Verwaltungsapparaten, deren Intention auf Vergleichbarkeit und Uniformität ausgelegt ist. Bezeichnenderweise lassen sich genau in den Räumen zwischen den Bildern Ungehorsam und Eigenwilligkeit orten, die ein authentischeres, lebhafteres Bild des Einzelnen wiedergeben als das vermessungstaugliche Bildderivat.

Margit Zuckriegl
(aus: Reading Identities / Identitäten lesen, Verlag Sonderzahl, Wien 2018)